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László Horváth Lehrstuhl Griechisch, Eötvös-Loránd-Universität Budapest, Eötvös-József-Collegium, Ungarn

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https://orcid.org/0000-0002-0646-2391
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Abstract

This paper analyses and interprets three passages in Hyperides' speech against Demosthenes and suggests a textual correction. The statements in columns XXIX–XXX become more comprehensible based on the relevant passages in the speech against Diondas. In line 21 of columna XXVIII, αὐτῷ (pronomen personale – Jensen and all the editors) should be replaced by αὑτῷ (pronomen reflexivum), which reconstructs the proper meaning of the text. After Chaeronea it was not the people who were grateful to Demosthenes, but quite the opposite: the people expected that Demosthenes and his companions would be grateful to them. Thus, the name lost in the lacuna is not Lycurgus, but Demosthenes.

Abstract

This paper analyses and interprets three passages in Hyperides' speech against Demosthenes and suggests a textual correction. The statements in columns XXIX–XXX become more comprehensible based on the relevant passages in the speech against Diondas. In line 21 of columna XXVIII, αὐτῷ (pronomen personale – Jensen and all the editors) should be replaced by αὑτῷ (pronomen reflexivum), which reconstructs the proper meaning of the text. After Chaeronea it was not the people who were grateful to Demosthenes, but quite the opposite: the people expected that Demosthenes and his companions would be grateful to them. Thus, the name lost in the lacuna is not Lycurgus, but Demosthenes.

Obwohl die klischeehafte Wahrheit des habent sua fata libelli für die gesamte abenteuerliche Geschichte des Hypereides-Handschriftencorpus ihre Gültigkeit hat, verdient das Schicksal des Papyrus mit der Rede Gegen Demosthenes – der ersten Hälfte des nach seinen Besitzern Harris–Arden-Rolle genannten antiken Buches – auch an sich besondere Aufmerksamkeit. Die ursprünglich beinahe sieben Meter lange, prunkvoll ausgestattete Papyrusrolle enthielt drei Reden; die ersten 3,5 Meter mit der Demosthenes-Rede waren jedoch im Laufe der Zeit in Stücke, ja stellenweise in kleinste Bruchstücke zerfallen. Anhand einer Studie von Gianfranco Bartolini habe ich diese Fragmente in Antik Tanulmányok früher bereits detailliert beschrieben und einen Überblick über ihre Geschichte gegeben.1 Hier soll lediglich so viel wiederholt bzw. hervorgehoben werden, dass sich aus diesen Bruchstücken schließlich insgesamt fünf Fragmentengruppen gebildet haben, die in der Forschung nach ihren Ankäufern bzw. Eigentümern als Harris-, Babington-, Egger-, Tancock-und Raphael-Fragmente bekannt sind und – aus der ursprünglichen Rolle und somit dem Textganzen herausgerissen – auf jeweils unterschiedlichen Wegen in den Besitz der neuzeitlichen Sammler gekommen waren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (aufgrund der Veröffentlichungsdaten zwischen 1869–1894) hatte Friedrich Blass mit seinen sieben Studien und drei Texteditionen drei Jahrzehnte lang eine nach philologischem Maßstab wahrhaft heroische Arbeit geleistet. In der Tat brachten die seither vergangenen etwa 130 Jahre keine weiteren nennenswerten Fortschritte in der Wiederherstellung der Rede Gegen Demosthenes. Für die heute maßgebliche Edition (1917) hatte Jensen gegenüber Blass lediglich zwei Kolumnen vertauscht, aber auch diese strukturelle Modifizierung ist wenig überzeugend. Es tauchten keine neuen Fragmente auf, im Gegenteil, waren sogar einige der einst vorhandenen Bruchstücke vorübergehend erneut verschollen, so dass Jensen vergeblich nach den Babington-Fragmenten im British Museum gesucht hat. (Aufgrund von Eric Handlys Hinweisen wurden diese schließlich erst 1998 in der Bibliothek des St. John's College in Cambridge von Teresa Morgan gefunden.2)

Wir wissen, dass bei der Ergänzung und Deutung von derartigen, fragmentarisch überlieferten Werken der Antike nur das Auftauchen neuerer Quellen (weiterer Fragmente und Testimonien) bzw. die moderne Technik behilflich sein könnten. Nun kann uns jetzt bezüglich der Rede oder Fragmentengruppe Gegen Demosthenes – wobei es sich hierbei lediglich um kleinere Ausschnitte handeln kann – beides zuteilwerden. Im Folgenden sollen in diesem Zusammenhang zwei Textstellen hervorgehoben und analysiert werden. Die neue, für die Deutung förderliche Quelle liefert hierbei „der Neue Hypereides“, vor allem die Rede Gegen Diondas; moderne Technik meint in diesem Fall vor allem die multispektrale Fotografie (multispectral imaging, MI).

Nach den auf Papyri überlieferten Inhaltsverzeichnissen hatte die Hypereides-Rede Gegen Demosthenes (κατὰ Δημοσθένους) auch einen Untertitel, nämlich ὑπὲρ τῶν ἁρπαλείων – Über die Harpalos-Angelegenheit. Obwohl Diodor in seiner amüsanten Zusammenfassung dank seiner Quellen vor allem die luxuriöse Lebensführung des Harpalos hervorhebt, so teilt er doch auch das Wesentliche bezüglich der Hintergrundereignisse mit.

Harpalos, dem von Alexander die Aufsicht über die babylonische Schatzkammer und deren Einkünfte anvertraut worden war, hatte, sobald der König seinen Kriegszug nach Indien antrat, sich der Üppigkeit ergeben, zumal er dessen Rückkehr für hoffnungslos hielt. Von Alexander zugleich zum Statthalter über ein riesiges Gebiet ernannt, ließ er die Gesetze außer Acht, jagte zunächst durch Misshandlung persischer Frauen der Liebe nach und vergeudete durch seine übermäßige Genusssucht einen großen Teil des Schatzes. Er ließ aus weitester Ferne, vom Roten Meer, Fische herbeischaffen und verbrachte seine Tage in sturer Überheblichkeit, unbekümmert um die enormen Kosten. Später ließ er von Athen die berühmteste Hetaira namens Pythionike zu sich holen, die er, solange sie lebte, mit fürstlichen Geschenken überhäufte, nach ihrem Tod aber mit großem Pomp beisetzen und ihr in Attika ein prunkvolles Grabmal errichten ließ. Danach ließ er eine andere attische Hetaira, namens Glykera, kommen, lebte andauernd in unermesslichem Luxus und trieb außerordentlichen Aufwand; damit ihm aber das Glück nicht den Rücken kehrt, gewann er das athenische Volk mit einer Wohltat für sich. Als nun Alexander aus Indien zurückkehrte und viele seiner verklagten Statthalter hinrichten ließ, fürchtete sich Harpalos vor der Strafe, nahm fünftausend Silbertalente zu sich, rüstete sechstausend Söldner aus und schiffte sich, aus Asien fliehend, nach Athen ein. Da niemand mit ihm verhandelte, ließ er die Söldner am Kap Tainaron in Lakonien zurück, nahm einen Teil der Schätze mit und kam als Schutzflehender nach Athen. Als Antipatros und Olympias seine Auslieferung verlangten, verteilte er viel Geld unter den Rednern, die ihn unterstützt hatten, ergriff die Flucht und fuhr zu seinen am Kap Tainaron stationierten Söldnern. Von dort segelte er nach Kreta, wo er jedoch von Thibron, einem seiner Freunde, mit Hinterlist ermordet wurde. Die Athener aber stellten wegen seines Geldes eine Untersuchung an und verurteilten Demosthenes und einige andere Redner, die Geld von Harpalos empfangen hatten.3

Das athenische Volk veranstaltete eine mächtige Gerichtsverhandlung mit 1500 Richtern, bei der die Anklage gegen die Beschuldigten im Namen des Staates von insgesamt zehn Rednern vetreten wurde. Neben Stratokles, Menesaichmos, Pytheas, Himeraios und Prokles finden wir hier auch Hypereides unter den Anklägern. Demosthenes wurde in diesem Prozess zu einer Geldstrafe von hundertfünfzig Talenten verurteilt4 – das waren die Umstände, unter denen Hypereides' Rede Gegen Demosthenes im Jahre 324 v. Chr. entstand.

Ein immer wiederkehrendes Moment in Hypereides' Plädoyer bildet die Behauptung, dass Demosthenes, sein ehemaliger antimakedonischer politischer Mitstreiter und Gesinnungsgenosse, durch seine Tat ihre Freundschaft und den Dank, den sie beide den Athenern schuldeten, geschändet habe, und formuliert fast genau am geometrischen Mittelpunkt der Rede (col. XX 25ff.) folgendermaßen:

εἶτα σὺ περὶ [φιλ]ί̣ας πρὸς ἐμὲ τολ[μήσεις αὐτίκα μά]λα [λέγειν;] [ταύτην τὴν φιλίαν διέ]λυσας αὐ[τό]ς, ὅ[τε χρ]υσίον κατὰ τῆς [πατρ]ίδος ἔλαβ̣ες καὶ [μετ]εβάλου· καὶ κατα[γέλα]στον μὲν σαυ[τὸν] ἐποίησας, κατῄ[σχυν]ας δὲ τοὺς ἐκ τῶν [ἔμπρ]οσθεν χρόνων [τῶν α]ὐτῶν τί σοι προ[ελομέ]νο[υ]ς· καὶ ἐξὸν [ἡμῖν] λαμπροτάτοις [εἶναι] παρὰ τῷ δήμωι [καὶ τὸ]ν ὑπόλοιπον [βίον ὑ]πὸ δόξης χρη[στῆς πα]ραπεμφθῆν[αι, ἅπα]ντα ταῦτα ἀνέτρ[εψας, κα]ὶ οὐκ αἰσχύνει νυνὶ τηλικοῦτ[ος] ὢν ὑπὸ μειρακίων κρινόμενος περὶ δωροδοκίας.

Und nach all dem wagst du es noch, mir über Freundschaft zu reden? … Du hast diese Freundschaft ruiniert, indem du als Landesverräter Geld angenommen, deiner Vergangenheit den Rücken gekehrt, dich selbst lächerlich gemacht und Schande über deine einstigen Gesinnungsgenossen gebracht hast; und obwohl es uns gegönnt gewesen wäre, allgemein verehrt vor dem Volk zu stehen und fortan von Ruhm bekränzt zu leben, hast du das alles zerstört und schämst dich nicht, in vorgerücktem Alter der Bestechung angeklagt auf das Urteil deiner jungen Richter zu warten!

In der ersten Hälfte des von Blass zusammengestellten siebenten Fragments (col. XXVIII–XXX)5 wird Demosthenes' Undankbarkeit gegeißelt.6

In der nachfolgenden Zeit [zweifelsohne mit Bezug auf die Niederlage von Chaironeia] hat das Volk nicht nur geduldet, dass wir uns in der Volksversammlung zu Wort melden und unsere Meinung sagen, sondern uns geradeheraus als seine Berater und Wortführer betrachtet… Und im folgenden Jahr wählte es …7 zum Finanzoberinspektor der Stadt, da es mit gutem Recht der Meinung war, dass wir ihm Dankbarkeit schulden. Überdies, als wir später wegen unserer früheren Taten oder bloß wegen des Krieges in etlichen Prozessen angegriffen wurden, stimmten die Richter niemals gegen uns, ganz im Gegenteil, sie retteten uns vor allen Gefahren, was als gewichtigstes und zuverlässigstes Anzeichen des Wohlwollens des Volks gilt. Du etwa, Demosthenes, getrautest dich in deinem Vorschlag das Todesurteil gegen dich selbst zu fordern, falls der Areopag dich unter den von Harpalos Bestochenen verzeichnen sollte; es kam denn auch dazu, weshalb du aufgrund deines Vorschlags ohne Weiteres hättest verurteilt werden sollen; das Volk aber hat nicht eigenmächtig gehandelt, sondern ein Gerichtsverfahren eingeleitet. … Obwohl das Glück unser Volk des Siegeskranzes beraubt hat, hat es uns den von ihm erhaltenen Ehrenkranz nicht genommen. Wenn also das Volk in dieser Weise auf unserer Seite steht, haben wir nicht etwa die Pflicht, ihm aus reinem Herzen zu dienen, ja würden wir ihm notfalls nicht gar unser Leben opfern? Ich denke es wahrhaftig so…

Ich bin überzeugt, dass wir nun den Schlüssel zum genauen Verständnis der Gedanken und Anspielungen des Hypereides in der Hand haben: Dieser Schlüssel ist meiner Meinung nach die Rede gegen Diondas. Als der Redner in den oben zitierten Kapiteln 28 f. (col. XXVIII 24 ff. und col. XXIX 1 ff.; siehe Anhang) die zahlreichen Prozesse wegen ihrer Taten vor Chaironeia und des verlorenen Krieges erwähnt, in denen das Volk nie gegen sie gestimmt hat, denkt er eindeutig an die in der Diondas-Rede erwähnten Gerichtsverfahren bzw. an den Diondas-Prozess und den Kranz-Prozess des Demosthenes. Die einschlägige Stelle der Rede gegen Diondas lautet wie folgt:

Διώνδας δὲ νῦν ἐν πεντήκοντα γραφαῖς, ἃς ἐγράψατο, κατὰ μὲν τῶ(ν) ὑπὲρ Φιλίππου πολιτευομένων οὐδεμίαν πώποτε γραφὴν ἀπήνεγκεν, ἀλλ’ οὐδὲ λόγωι ἐβλασφήμησεν οὐδὲ περὶ ἑνὸς αὐτῶν, τοῖς δὲ τἀναντία ἐκείνωι πολιτευομένοις λοιδορούμεν(ος) διατελεῖ ἐπὶ πάντων τῶν ἀγώνων. ἐγράψατο δὲ Χαρίδημον μέν, ὃν νῦν ἐγκωμιάζει μὴ ποιεῖν ἐφ’ οἷς ἔλαβεν τὴν δωρεὰν τοῦ [δήμ]ου, βουλόμενος διαπράξασθαι [οὐδὲν ὧν ἐ]δ[ίωκ]εν [ἠ]δικηκότα. Λυκοῦρ(γον) δὲ οὐ μόνον παρανόμων ἐδίωξεν, ἀλλὰ καὶ ἀσεβείας πρὸς τὸν βασιλέα. Δημοσθένη τε πλείους ἢ πέντε καὶ δέκα γραφὰς ἐγράψατο, κατ’ ἐμοῦ δὲ τρεῖς τῆι αὐτῆι ἡμέραι ἀπήνεγκεν.8

Schaut euch an: Mit den in seinem Namen eingereichten fünfzig Strafanzeigen hat Diondas nie auch nur einen einzigen Prozess gegen Philipps Unterstützer angeregt, ja nicht einmal auch nur einen von ihnen mit Worten beleidigt, verunglimpft hingegen seine Gegner ständig, in jedem Gerichtsverfahren. Er hat Charidemos verklagt, den er jetzt dafür hochpreist, im Austausch gegen das Geschenk des Volkes sein Versprechen nicht erfüllt zu haben, obwohl er überhaupt nicht will, dass Charidemos was auch immer von all dem tut, wofür er ihn als Gesetzesübertreter zu verklagen versucht hatte. Nicht nur hat er eine Anklage wegen Verfassungswidrigkeit gegen Lykurg erhoben, sondern hat ihn beim Archon basileus auch wegen Gotteslästerung angezeigt! Auch gegen Demosthenes hat er mehr als fünfzehn Prozesse eingeleitet und mich innerhalb eines einzigen Tages gleich dreimal angezeigt.

Diondas und seine Mitankläger haben den von Demosthenes und Hypereides erkannten großen und glorreichen Moment (καιρός) und die diesbezüglichen staatsmännischen Taten der Redner in Frage gestellt und zugleich versucht, die antimakedonischen Politiker in einer Reihe von Prozessen verurteilen zu lassen. Vor dem Auftauchen der Diondas-Rede war im Fall des Hypereides lediglich ein einziger derartiger Prozess, das Gesuch des Aristogeiton, bekannt, in dem dieser den Vorschlag des Hypereides zur Befreiung der für Athens Verteidigung zum Kampf bereiten Sklaven nach der Schlacht von Chaironeia angegriffen hatte.9 Die „neue Quelle“ erhellt jedoch den genauen Hintergrund der resümierenden Behauptungen der Demosthenes-Rede.

Für die Annahme, dass Hypereides an diesen Stellen der Rede Gegen Demosthenes sehr wohl an die in der Diondas-Rede erwähnten Ereignisse und seine Schicksalsgemeinschaft mit Demosthenes denkt, spricht auch eine weitere Allusion im Zusammenhang mit den Kränzen. Im darauffolgenden 30. Kapitel (col. XXX 1–13; siehe Anhang) spricht Hypereides darüber, dass das (Un)Glück das Volk selbst des Siegeskranzes zwar beraubt hatte – in der Diondas-Rede gilt die τυχή, das Unglück, gerade in dieser Funktion und Bedeutung als Schlüsselbegriff –, das Volk ihnen aber den den Rednern verliehenen Kranz nachher nicht genommen bzw. von ihnen nicht zurückgenommen hat (ἀφαιρεθείς in col. XXX 3 und ἀφείλετο in col. XXX 5).

In beiden Reden – in der gegen Diondas wie gegen Demosthenes – ist weitgehend eindeutig, dass „der Kranz des Volkes“ der Sieg bei Chaironeia gewesen wäre. Als ebenso eindeutig dürfte gelten, dass Hypereides in Bezug auf Demosthenes auf die beiden Kränze verweist, für deren Verleihung an Demosthenes das Volk 338 und 337 v. Chr. votiert hatte bzw. im Begriff war zu votieren. Die im Jahre 334 v. Chr. – zehn Jahre vor dem Harpalos-Skandal und dem Prozess gegen Demosthenes – vorgetragene Diondas-Rede war in ebenjenem Prozess geboren, in dem Hypereides den Angriff des Diondas erfolgreich abwehrte, der durch die Verurteilung des Redner-Politikers die Absicht hatte, Demosthenes den von Hypereides vorgeschlagenen und ihm von der Volksversammlung zuerkannten Kranz aberkennen zu lassen. 330 v. Chr., sechs Jahre vor der Harpalos-Angelegenheit, wurde die von Ktesiphon beantragte und von Aischines beanstandete Verleihung des Kranzes an ihn in seiner berühmten Rede über den Kranz wiederum von Demosthenes verteidigt. 324 v. Chr. verweist Hypereides zweifelsohne auf diese beiden, in ihrem Inhalt und ihrer Argumentationstechnik gleichermaßen sehr ähnlichen, groß angelegten Kranz-Prozesse und auf deren Erfolg. Dieser Erfolg muss sich nicht nur im Gedächtnis der Nachwelt, sondern auch in dem der Zeitgenossen derart festgesetzt haben, dass der Hinweis bei seinem Vortrag der Rede gegen Demosthenes den athenischen Richtern unmissverständlich gewesen sein wird. Dieser Deutung widerspricht auch der Umstand nicht, dass Hypereides in Bezug auf den Kranz im Plural über die Begünstigten spricht (ἡμῶν ὃν ἔδωκεν οὐκ ἀφείλετο), und wir keine Angaben darüber haben, ob Hypereides jemals mit dem Kranz ausgezeichnet wurde. Durch den Plural des Personalpronomens drückt sich nämlich wieder einmal die Schicksalsgemeinschaft der beiden Politiker aus. Hypereides, der von Diondas angezeigte und angegriffene Unterbreiter der Verleihung des Kranzes, war durch seine siegreiche Apologie ebenso beteiligt am Erfolg – in weiterem Sinne an der Selbstrechtfertigung und faktisch an der Verteidigung des Kranzes – wie Demosthenes, der Begünstigte selbst.

Die vorhin erwähnten engen inhaltlichen Beziehungen zwischen der Demosthenes- und der Diondas-Rede (die zahlreichen Freisprüche und die Verteidigung des Kranzes bzw. der Kränze) haben meine Ansichten auch über die in der Forschung vertretenen Standpunkte zur möglichen Ergänzung des 28. Kapitels der Demosthenes-Rede gefestigt (col. XXVIII 14 ff.; siehe Anhang). Das Kapitel, dessen textkritische Überprüfung lohnend scheint, befindet sich vor den oben erwähnten, früher untersuchten, aufgrund der Diondas-Rede interpretierbaren Textstellen und fügt sich in denselben Gedankengang ein. An dieser Stelle findet sich jedoch eine Lakune auf dem Papyrus: Der Text ist teils verloren gegangen, teils verschwunden. In Bezug auf Letzteres benutzt Blass präzise den Ausdruck evanuere, während bei Jensen wie überall, so auch hier der Vermerk desunt, d. h. ‚fehlt, verloren‘, steht. Die beiden Äußerungen können natürlich nicht dasselbe bedeuten, wie darauf weiter unten noch eingegangen werden soll. In den noch lesbaren Zeilen schildert Hypereides (wie dies oben in der deutschsprachigen Übersetzung bereits zitiert wurde) das ehemals ungebrochene Vertrauen des Volkes zu ihnen – um später auch hierdurch Demosthenes’ Undankbarkeit herauszustreichen –, und spricht darüber, dass nach dem politischen und militärischen Fiasko von Chaironeia sowohl Demosthenes als auch er selbst sich weiterhin aktiv am politischen Leben von Athen beteiligen durften. Sie durften in der Volksversammlung sprechen und das Volk hörte sich ihre politischen Vorschläge und Argumente an. Nach der ausgefallenen Textstelle hebt Hypereides des Weiteren hervor, dass der δῆμος jemanden (der Name ist verloren) zum Leiter der gesamten Verwaltung ernannt habe – in der Meinung, dass ihm, dem Volk, „von uns“ (wieder ἡμῶν), Dank zuteil werden würde.

Die Formulierung ὑπ]ολαμβάνων [χ]άριν α[ὑ]τῶι π]αρ’ ἡμῶν ὀφείλεσ]θαι, ὅπερ δίκαιον ἦν (‘da es mit gutem Recht der Meinung war, dass wir ihm Dank schulden’ – col. XXVIII 20–23; siehe Anhang) verstehe ich nämlich anders als die früheren Editoren und Übersetzer. Wie Blass das Pronomen ΑΥΤΩΙ in Zeile 11, betrachte ich ΑΥΤΩΙ in Zeile 21 ebenfalls als Reflexivpronomen, d. h. als α[ὑ]τῶι – im Gegensatz zu α[ὐ]τῶι in allen anderen Ausgaben (so auch bei Jensen). Der Gedanke lautet dementsprechend: Das Volk hatte angenommen, dass, wenn es Demosthenes wählt und die makedonenfeindlichen Politiker, unter ihnen Hypereides, trotz des Fiaskos unterstützt, diese ihm Dank schulden, also alles für das Volk tun (etwa in ihren Ämtern gut haushalten) würden – was auch in Ordnung (also zumutbar, d. h. eine gerechte Erwartung) war. Bei der bisherigen Lesart α[ὐ]τῶι ist das Pronomen auf den in der Lakune fehlenden Namen der Person, auf Demosthenes (oder Lykurg?), zu beziehen; unter π]αρ’ ἡμῶν (col. XXVIII 22; siehe Anhang) wäre aber die Gemeinschaft des Hypereides und des Volkes zu verstehen; demnach sei das Volk der Meinung gewesen, dass wir (das Volk, zusammen mit Hypereides) ihm, also Demosthenes (oder Lykurg?), Dank schulden.

Gegen diese Lösung ergeben sich mehrere Bedenken. Einerseits bezeichnet Hypereides mit dem Pronomen „wir“ in diesem Kapitel konsequenterweise sie beide, also Demosthenes und sich selbst – so ist die Fügung π]αρ’ ἡμῶν (ebenda, Zeile 22) von col. XXVIII von den Personalpronomen ἡμᾶς und ἡμῖν (Zeilen 1 bzw. 25) umgeben, die sich meines Erachtens auf die beiden Politiker beziehen müssen. Andererseits, wenn in der Lakune ursprünglich der Name des Demosthenes zu lesen war, wofür ich im vorliegenden Aufsatz plädiere, ist es lohnend, Whiteheads Feststellung in Betracht zu ziehen, der unter Bezugnahme auf Brian Bosworths Meinung über die Interpretation „The thinking there was that he [d. h. das Volk] owed a debt of gratitude, which was only right“ und über die Annahme, dass in der Lakune möglicherweise „Demosthenes“ zu ergänzen ist, folgendermaßen formuliert: „anything like it … would risk influencing the jury in the defendant's favour“.10 Whitehead meint hierzu: „The point [Bosworths soeben zitierte Ansicht] seems a good one“ – es sei denn, der Sinn von ὑπολαμβάνων (col. XXVIII 20) wird nicht auf die gutgläubige Einstellung des Volkes vor der Harpalos-Angelegenheit beschränkt –, und fügt hinzu, dass Hypereides das Verb ὑπολαμβάνω auch woanders in der Bedeutung ‚irrtümlicherweise annehmen‘ (thinking which is misguided) benutzt.11 (Meiner Meinung nach passt eben diese Bedeutungsnuance am besten zu der Annahme, dass in der Lakune ursprünglich der Name des Demosthenes stand, sprich: Das Volk ging irrtümlicherweise davon aus, dass Demosthenes dem Demos das ihm erneut geschenkte Vertrauen lohnen würde.)

Wir können aber vielleicht sogar weiter gehen und die Frage stellen, wie das athenische Volk neben der Anerkennung der erhabenen Ideale und Taten für die gescheiterte Politik, die zur militärischen Niederlage geführt hatte, wirklich dankbar sein konnte. Geht es nicht vielmehr darum, dass es weiterhin Vertrauen schenkte und damit rechnete, dass der früher einmal bereits gescheiterte Politiker dafür dankbar sein würde? Im Hinblick auf einen kohärenten Gedankengang haben wir daher meines Erachtens auch unter diesem παρ’ ἡμῶν (col. XXVIII 22) Demosthenes und Hypereides zu verstehen, so dass es sich bei der im Text fehlenden Person, die zum Leiter der Verwaltung ernannt worden war, wohl um Demosthenes handelt. Nach dem in der Forschung beinahe ausschließlich vertretenen Standpunkt soll diese Person jedoch Lykurg gewesen sein. Dieser Auffassung hat aufgrund seiner eigenen (geschichtswissenschaftlichen) Überlegungen David Lewis widersprochen, der in seiner posthum erschienenen Studie bislang so gut wie als Einziger dafür argumentiert, dass im Text ursprünglich Demosthenes' Name gestanden haben muss.12

Zunächst lohnt es sich, die von der entscheidenden Mehrheit der Philologen und Althistoriker vorgebrachten Argumente für Lykurg Revue passieren zu lassen. Die das gegebene Kapitel enthaltende Kolumne XXVIII ist auf dem Fragment T(ancock) IIa überliefert, das Blass – nach der Veröffentlichung durch Kenyon13 – in eigener Interpretation in seine dritte Auflage eingebaut hat.14 Der Kardinalpunkt der Deutung ist der Spiritus beim Pronomen AYTΩΙ in Zeile 11 von col. XXVIII (die Handschrift auf dem Papyrus enthält offensichtlich keine Diakritika), der sowohl als lenis (αὐτῶι) wie auch als asper (αὑτῶι) gelesen werden kann. Blass hat erkannt, dass es sich hier um Letzteres, nämlich das Reflexivpronomen, handeln könnte, und dadurch – meiner Ansicht nach – den Gedankengang vollkommen wiederhergestellt.15 Das Volk, der δῆμος, ist die Hauptperson, die es sehr wohl zuließ, dass die gescheiterten Politiker – so höchstwahrscheinlich Hypereides, Demosthenes (und vielleicht Lykurg?) – sich vor sie begeben: [οὐ μέντοι]… οὐκ εἴα προσ[ιέναι ¦ αὑτῶι). Zur Wiederherstellung des in der Lakune verlorenen Namens dürften die ab Zeile 16 wieder lesbaren Passagen einen Anhaltspunkt bieten. In der Edition und Interpretation von Jensen:

… τοῦ] δὲ ἐπιόν[τος … ἐ]πὶ τὴν δι[οίκησιν τῶ]ν αὑτοῦ ἅπασαν [ταμ]ίαν ἐχειροτόνησ[εν, ὑπ]ολαμβάνων [χ]άριν α[ὐ]τῶι [π]αρ’ ἡμῶν ὀφείλε[σ]θαι, ὅπερ δίκαιον ἦν.

Im darauffolgenden [Jahr] aber wählte es ihn … zum Finanzoberinspektor der Stadt, da es mit gutem Recht der Meinung war, dass wir ihm Dank schulden.

Statt „im darauffolgenden Jahr“ (ἐπιόντος ἔτους – Jensen im Apparat) wurde von Colin, Marzi und Engels die Lesart „im darauffolgenden Monat“ (ἐπιόντος μηνός) vorgeschlagen, vor allem weil in der ausgefallenen Passage aufgrund des als Kronzeuge betrachteten Testimoniums (Plu. Vitae X. Or. 841B–C) – in Anlehnung an Blass' Lösung (10 sqq. agitur de Lycurgo) – Lykurg als das gewählte Oberhaupt vermutet wurde.16

ἀκροατὴς δὲ γενόμενος Πλάτωνος τοῦ φιλοσόφου, τὰ πρῶτα ἐφιλοσόφησεν· εἶτα καὶ Ἰσοκράτους τοῦ ῥήτορος γνώριμος γενόμενος ἐπολιτεύσατο ἐπιφανῶς, καὶ λέγων καὶ πράττων καὶ δὴ πιστευσάμενος τὴν διοίκησιν τῶν χρημάτων· ταμίας γὰρ ἐγένετο ἐπὶ τρεῖς πενταετηρίδας ταλάντων μυρίων τετρακισχιλίων, ἢ ὥς τινες μυρίων ὀκτακισχιλίων ἑξακοσίων πεντήκοντα, καὶ ὁ τὰς τιμὰς αὐτῷ ψηφιζόμενος Στρατοκλῆς ὁ ῥήτωρ, τὸ μὲν πρῶτον αἱρεθεὶς αὐτός, ἔπειτα τῶν φίλων ἐπιγραψάμενός τινα αὐτὸς ἐποιεῖτο τὴν διοίκησιν διὰ τὸ φθάσαι νόμον εἰσενεγκεῖν, μὴ πλείω πέντε ἐτῶν διέπειν τὸν χειροτονηθέντα ἐπὶ τὰ δημόσια χρήματα.

Als Schüler des Philosophen Platon begann er zunächst mit dem Studium der Philosophie, wurde später aber auch Schüler des Redners Isokrates und erlangte sowohl durch seine Reden als auch durch seine Maßnahmen eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben, vor allem als er mit der Verwaltung der Finanzen beauftragt wurde, da er dreimal für vier Jahre der Schatzmeister von vierzehntausend – oder wie manche, unter ihnen der Redner Stratokles, der über dessen Auszeichnung abstimmen ließ, meinen – von achtzehntausend sechshundertfünfzig Talenten wurde. Er leitete das Amt zunächst als gewählter Beamter, später im Namen eines seiner Anhänger, den man auf diesen Posten ernennen ließ, da gerade zuvor ein Gesetz darüber erlassen worden war, dass durch Abstimmung gewählte Beamte öffentliche Güter nicht länger als vier Jahre verwalten dürfen.

Die für Lykurg Argumentierenden halten die Ausdrücke διοίκησις und ταμίας für ausschlaggebend, die auch in der Rede Gegen Demosthenes (col. XXVIII 17 ff.) verwendet werden. (Hypereides wiederholt den Gedanken mit dem Ausdruck διοίκησις auch in seiner Rede über Lykurgs Söhne [frg. 118 Jensen]). Der in seinen Ergänzungen ständig kühne Colin hat den textus aufgrund dessen folgendermaßen „wiederhergestellt“: Τότε δὴ Λυκοῦργον προστάτην μᾶλλον εἵλετο· τοῦ δ]ὲ ἐπιόν[τος μηνός, ἐ]πὶ τήν δι[οίκησιν κτἑ.

In seiner posthum erschienenen Studie hat David Lewis die offenen Fragen von Eubulos' und Lykurgs Finanzverwaltung untersucht und strebte im Fall des Lykurg in erster Linie die genaue Datierung von dessen Amtszeit an.17 Anhand des von Aischines zitierten Gesetzes des Hegemon,18 das nach dem Rücktritt des Demosthenes 336 v. Chr. die Befugnisse der οἱ ἐπὶ τὸ θεωρικόν einschränkte, kommt er zu dem Schluss, dass Lykurg zwischen 336 und 324 v. Chr. der leitende Verwalter gewesen sein muss. In seine Beweisführung hat Lewis auch die Hypereides-Textstelle mit einbezogen, analysiert im Detail Colins Standpunkt und sogar dessen Vorschlag im Zusammenhang mit dem Text: Colin nahm nämlich Jensens Vorschlag ἐπιόντος ἔτους (im darauffolgenden Jahr) zunächst zwar an, entschied sich dann in seiner Edition doch für ἐπιόντος μηνός (im darauffolgenden Monat). Wegen Kenyons eindeutiger ταμίας-Lesart war er überzeugt, dass hier unbedingt von Lykurg die Rede sei.19 Wenn aber die Wahlen ein Jahr (und nicht einen Monat) nach der Schlacht von Chaironeia, also 337 v. Chr. stattgefunden hätten, wäre das mit dem angenommenen Zeitpunkt von Lykurgs Amtsantritt 338 v. Chr. unvereinbar gewesen. Lewis weist aber darauf hin, dass die These, nach der Lykurg 338 v. Chr. gewählt worden sei, auch bei der Lesart „im darauffolgenden Monat“ unhaltbar ist, da die Wahlen nach der Schlacht in diesem Fall in die Zeit nach den Panathenäen fallen würden, was jedoch dem Usus widerspricht, dass die Wahlen anlässlich des Festes stattfanden.

Die Argumentation und der Lösungsvorschlag weisen also mehrere wunde Punkte auf. Nach alldem bringt Lewis in vier skeptisch anmutenden Fragen seinen Zweifel darüber zum Ausdruck, warum wir an dieser Stelle unbedingt Lykurg vermuten müssten. Hypereides spricht darüber, dass das Volk den antimakedonischen Politikern weiterhin Vertrauen schenkte – warum aber hätte es ausgerechnet Lykurg herausstellen sollen, der vor Chaironeia bekanntlich keine entscheidende Rolle gespielt hatte?20 Warum wäre dies ein besserer Beweis für die Undankbarkeit des Demosthenes? Nach alldem liege die Lösung auf der Hand: In der Lakune fehlt der Name des Demosthenes, der 337 v. Chr. Inspektor des θεωρικόν-Fonds war. Auch zum verloren gegangenen Text wird von Lewis ein Vorschlag unterbreitet: „Without making more than a guess, σ[υνηγόροις· τοῦτον γὰρ ἐπὶ τὸν λόγον τὸν ἐπιτάφιον εἵλετο, τοῦ δ]ὲ ἐπιόν[τος ἔτους κτλ, fits the facts and fits the speech.“ Wenn Aischines an der oben zitierten Stelle behauptete, dass die Inspektoren des θεωρικόν-Fonds – so auch Demosthenes – die Führung beinahe der ganzen Stadt in der Hand hatten (σχεδὸν τὴν ὅλην διοίκησιν εἶχον τῆς πόλεως),21 kann auch Hypereides sich über Demosthenes so ausgedrückt haben, wie er es tat: ἐπὶ τὴν δι[οίκησιν τῶ]ν αὑτοῦ (sc. τοῦ δήμου) ἅπασαν ταμίαν – umso mehr, als der Ausdruck ταμίας (‚Verwalter‘) nich an ein bestimmtes Amt gebunden, also kein terminus technicus war.

Die Argumentation und die Schlussfolgerung des Historikers Lewis können wir neben den aus der Diondas-Rede gewonnenen, oben analysierten Anhaltspunkten auch mit einem weiteren philologischen Argument untermauern. An einer anderen Stelle der Demosthenes-Rede (col. XII 1 ff.) fragt Hypereides den Angeklagten Demosthenes spöttisch nach dessen „selbstloser“ Verwaltung.

σὺ δ’ ὁ τῶι ψηφίσματι τοῦ σώματος αὐτοῦ τὴν φυλακὴν καταστήσας καὶ οὔτ’ ἐγλειπομένην ἐπανορθῶν οὔτε καταλυθείσης τοὺς αἰτίους κρίνας, προῖκα δηλονότ[ι] τὸν καιρὸν τοῦτον τεταμίευσαι; καὶ τοῖς μὲν ἐλάττοσι ῥήτορσιν ἀπέτινεν ὁ Ἅρπαλος χρυσίον, τοῖς θορύβου μόνον καὶ κραυγῆς κυρίοις, σὲ δὲ τὸν τῶν ὅλων πραγμάτων ἐπιστάτην παρεῖδεν; καὶ τῷ τοῦτο πιστόν;

Du aber, der du über die persönliche Bewachung des Harpalos selbst hast abstimmen lassen, und dann, als diese sich als zu schwach erwiesen hat, sie nicht verstärkt hast, und als es gänzlich zerrüttet war, auch die Verantwortlichen nicht verklagt hast: ausgerechnet du wirst gratis und ohne Entgelt gewirtschaftet haben!? Die geringeren Redner, die nur lärmen und herumbrüllen konnten, soll Harpalos mit Gold bezahlt, dich aber, der du in allen Fragen einen entscheidenden Einfluss hast, ignoriert haben!? Wer soll dies glauben?

Die von Harpalos geschaffene, reichlichen Gewinn verheißende, aber leicht verfliegende Gelegenheit (καιρός) zur Bestechung bildet das ruhmlose Gegenstück zum großen historischen Moment, zum καιρός vor der Schlacht von Chaironeia, den Hypereides in der Diondas-Rede und Demosthenes in der Rede über den Kranz so häufig erwähnen. Demosthenes' politischer Glanz und Untergang werden von Hypereides, vermutlich bewusst, in zu ruhmvollen und ruhmlosen Taten anspornenden, nie wiederkehrenden Anlässen verdichtet, sozusagen in einzelnen καιροί komponiert. Die Verwendung von τεταμίευσαι, der verbalen Form von ταμίας, spricht ebenfalls für die Annahme, dass die Lakune in col. XXVIII 14 ff. zum Aufgabenbereich des ταμίας den Namen des Demosthenes enthielt, da Hypereides diesen Begriff in Bezug auf Demosthenes auch anderswo verwendete.

Obwohl die Argumentation des Historikers Lewis meines Erachtens auch an sich überzeugend ist, fand sie in der späteren Forschung keine Beachtung. Lykurgs Name wurde in der möglichen Ergänzung nicht getilgt, es drängte sich höchstens die Unentscheidbarkeit der Frage (Lykurg oder Demosthenes) auf.22 Auch die in der vorliegenden Studie angeführten philologischen Argumente – seien sie, zusammen mit der Argumentation von Lewis, für mich noch so überzeugend – können keine absolute Gewissheit bedeuten. Die ultima ratio wäre es, den mit Blass' Begriff evanuere charakterisierten Text einsehen zu können. Die in der Edition ohne Klammern gesetzten Punkte weisen darauf hin, dass der Schriftträger nicht vermisst ist: Die Buchstaben werden wohl da sein, nur können wir sie nicht sehen. Wenn diese der multispektralen Fotografie (multispectral imaging) unterzogen werden könnten, so könnte unter anderem auch nachgewiesen werden, ob die philologischen Argumente wirklich stichhaltig sind und die fragliche Lakune ursprünglich tatsächlich den Namen des Demosthenes enthielt.23

Danksagung

Die Studie wurde im Rahmen des vom Nationalen Forschungs-, Entwicklungs-und Innovationsbüro geförderten Forschungsprojekts NKFIH NN 124539 „Gesellschaftlicher Kontext im Spiegel der Textkritik. Dies-und jenseits von Byzanz“ angefertigt.

Notiz

This is a German version of a research paper published in Hungarian in Antik Tanulmányok, DOI: 10.1556/092.2022.00013.

1

Bartolini, G.: I papiri e le edizioni dell’ orazione di Iperide contro Demostene. Atene e Roma 17 (1972) 103–113; Horváth, L.: Hypereidés Démosthenés ellen című beszédének töredékei [Die Fragmente der Rede von Hypereides Gegen Demosthenes]. AntTan 66 (2022) 135–152.

2

Morgan, T.: Some Lost Fragments of Hyperides. ZPE 123 (1998) 75–77. Siehe auch Kassel, R.: Babingtons Hypereidesfragmente (Bb. I–VI). ZPE 125 (1999) 75–76.

3

D. S. XVII 108. Diodors Quelle war Theopompos von Chios, der die vergnügungssüchtige Verderbtheit als eine der Triebfedern der Geschichte betrachtete (vgl. Ath. XIII 586d). Zu früheren Aktivitäten des Harpalos vgl. Arr. An. III 6. 4–5.

4

Plu. Vitae X. Or. 846C.

5

Die Nummern der Kolumnen und Kapitel fallen in der Rede Gegen Demosthenes in fast jedem Fall zusammen.

6

Der griechische Text wird in Gestalt der in Vorbereitung befindlichen BT-Edition im Anhang vorliegender Studie abgedruckt.

7

Die hier erwähnte Person wird meines Erachtens – wie ich bezüglich dieser Frage im Folgenden argumentiere – Demosthenes gewesen sein. An zahlreichen Stellen der Rede wendet sich Hypereides in der zweiten Person Singular an Demosthenes. Daher entweder „es wählte Demosthenes“ oder „es wählte dich“.

8

Hyp. Dion. 9.

9

Siehe or. VII πρὸς Ἀριστογείτονα Frg. 27–39 (Jensen) und Whitehead, D.: Hyperides. The Forensic Speeches. Oxford 2000, 450.

10

Whitehead (Anm. 9) 450.

11

Phil. col. V 8 (allerdings eine falsche Lesart; siehe Horváth, L.: Eine fragwürdige Lesart [Hyp. IV. Kol. V.8]. Acta Ant. Hung. 44 [2004] 163–170); Eux. col. XXXI 14; Ath. col XIV 10; Epit. col. VI 14.

12

Lewis, D. M.: Selected Papers in Greek and Near Eastern History. Ed. P. J. Rhodes. Cambridge 1997, 25, 221–227. The financial offices of Eubulus and Lycurgus. Lewis' Standpunkt teilt später J. Radiczke in seiner Rezension (Gnomon [2008] 204–210, bes. 209) zu Whiteheads Kommentar (Anm. 9).

13

Siehe Kenyon, F. G.: Papyrus Fragments of Hyperides and Demosthenes. CR 6 (1892) 288–289, 429–430.

14

Die Tancock-Fragmente werden heute in der Rossall School (Fleetwood, Lancaster) aufbewahrt, die Charles Coverdale Tancock zehn Jahre lang als Direktor leitete (1886–1896). Tancock hatte die insgesamt fünf Fragmente durch zwei aufeinanderfolgende Ankäufe erstanden und anschließend an Kenyon verschickt, der sie als Bruchstücke des Hypereides-Papyrus identifizierte. Blass, Fr.: Hyperidis orationes sex. Cum ceterarum fragmentis. Leipzig 1894, VII; Jensen, Chr.: Hyperides. Orationes. Leipzig 1917, VI; Bartolini (Anm. 1) 107 und Whitehead (Anm. 9) 447.

15

Von Whitehead (Anm. 9) 447 f. wird ordnungshalber auch die Alternative gründlich untersucht.

16

Colin, G.: Hypéride. Discours. Paris 1946, 223 f.; Marzi, M.: Iperide. In Malcovati, E. – Marzi, M. – Leone, P. (Hg.): Oratori attici minori. Volume primo. Iperide, Eschine, Licurgo. Torino 1977, 136, Anm. 62; Engels, J.: Studien zur politischen Biographie des Hypereides. München 19932, 127, Anm. 233. Der bestimmende Einfluss des Lykurg wird auch aufgrund von D. S. XVI 88,1 ab 338 v. Chr. datiert; über die genaue Dauer seiner Amtszeit von zwölf Jahren (spätestens 336–324 v. Chr.) gehen die Meinungen auseinander. Zum umfassenden Überblick über die Frage und zur weiteren Forschungsliteratur vgl. Whitehead (Anm. 9) 448 ff.

17

Lewis (Anm. 12).

18

Aeschin. III 25.

19

Die Grundlage der Beweisführung war auch für Colin die oben zitierte Textstelle Plu. Vitae X. Or. 841B–C bzw. das in 852B erwähnte Gesetz. Colin zufolge hieß der genaue Titel ταμίας ἐπὶ τὴν διοίκησιν. Vgl. Colin, G.: Note sur l'administration financière de l'orateur Lycurge. REA 30 (1928) 189–200.

20

Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass Hypereides im Zusammenhang mit den Prozessen gegen ihn und Demosthenes (Dion. 9) zugleich auf zwei weitere, gegen Lykurg eingeleitete Gerichtsverfahren hinweist.

21

Aeschin. III 25: οἱ ἐπὶ τὸ θεωρικὸν κεχειροτονημένοι ἦρχον μέν, πρὶν ἢ τὸν Ἡγήμονος νόμον γενέσθαι, τὴν τοῦ ἀντιγραφέως ἀρχήν, ἦρχον δὲ τὴν τῶν ἀποδεκτῶν καὶ νεωρίων ἀρχήν, καὶ σκευοθήκην ᾠκοδόμουν, ἦσαν δὲ καὶ ὁδοποιοί, καὶ σχεδὸν τὴν ὅλην διοίκησιν εἶχον τῆς πόλεως.

22

Whitehead (Anm. 9) 449 f. betont gegenüber Lewis' Standpunkt den Umstand, dass der Begriff ταμίας für die Beamten οἱ ἐπὶ τὸ θεωρικόν nie benutzt wurde – demgegenüber verbindet ihn die fragliche Stelle bei Plutarch mit Lykurg. Lewis' zweiter Einwand bezüglich der Deutung des Ausdrucks παρ' ἡμῶν wurde weiter oben bereits zitiert. M. Faraguna (Atene nell’ età di Alessandro: problemi politici, economici, finanziari [Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, classe di scienze morali, storiche e filologiche IX 2.2]. Roma 1992, 201–203) bleibt nach längeren Überlegungen zum Lykurg–Demosthenes-Dilemma auf dem Standpunkt des non liquet. (Faraguna bezieht sich 1992 selbstverständlich noch nicht auf die 1997 posthum erschienene Studie von Lewis, sondern auf deren frühere, vorerst unveröffentlichte Fassung, die unter anderem von G. Bartolini [Iperide. Rassegna di problemi e di studi 1912–1972. Padua 1972, 58] zusammengefasst wird.)

23

Die Mitarbeiter der British Library sind bereit, das – vorübergehend nicht auffindbare – Tancock II-Fragment mit der untersuchten Textstelle aus der Rossall School (Fleetwood, Lancaster) in situ zu fotografieren. Für ihre bisherige freundliche Hilfe sei an dieser Stelle Herrn Eugenio Falcioni (BL) und Herrn Richard MacDowell (Rossall School) ganz herzlich gedankt.

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